# 1 - Was ist eigentlich Evidenzbasierung und warum sollten wir darüber sprechen?

In unserer 1. Folge sprechen wir darüber was Evidenzbasierung nicht ist und aus welchen Komponenten sie sich zusammensetzt. Sara hat zwei Studien mitgebracht, in denen schwedische und österreichische Ergotherapeut*innen dazu befragt wurden, wie ihnen die Umsetzung von evidenzbasierter Praxis gelingt. Und Sarah erzählt, wie sie ihn ihrem Arbeitsalltag Zeit für Literaturrecherchen schafft.

Lust auf mehr Evidenz für dein Team?

EBP-Datenbank des DVE

Wissenschaftliche Leitlinien bei der AWMF

Lindström, A.-C., & Bernhardsson, S. (2018). Evidence-based practice in primary care occupational therapy: A cross-sectional survey in Sweden. Occupational Therapy International,  e5376764.

Ritschl, V., Schönthaler, E., Schwab, P., Strohmer, K., Wilfing, N., & Zettel-Tomenendal, M. (2015). Evidenzbasierte Praxis: Einstellungen, Kompetenzen, Barrieren und Arbeitszufriedenheit österreichischer
Ergotherapeuten – eine Umfrage. ergoscience, 10(3), 97–107.

Straus, S. E., Glasziou, P., Richardson, S. W., & Haynes Brian, R. (Hrsg.). (2018). Evidence-based medicine: How to practice and teach EBM (5. Auflage). Elsevier.

Ware, M., & Mabe, M. (2015). The STM Report—An overview of scientific and scholarly journal publishing
(4. Aufl.). International Association of Scientific, Technical andMedical Publishers.

 

Intro: Evidenz auf die Ohren. Der Podcast für evidenzbasierte Ergotherapie. (Spannung vermittelnde Musik die zuerst lauter wird und dann leiser.)

Sara Mohr: Herzlich willkommen zum neuen Podcast für evidenzbasierte Praxis in der Ergotherapie. Wir sind Sarah Bühler und Sara Mohr und wir möchten gerne mit euch gemeinsam unterwegs sein und spannende Forschung, neue Arbeitsfelder und Möglichkeiten zum Theorie-Praxis-Transfer in der Ergotherapie entdecken. Und weil das unsere erste Folge ist, stellen wir vielleicht kurz uns vor und dann das Thema Evidenz in der Ergotherapie. Magst du anfangen?

Sarah Bühler: Ich kann anfangen. Ich bin Sarah Bühler, Ergotherapeutin, hab 2015 mein Staatsexamen gemacht und arbeite seit dem in Vollzeit in ambulanten Praxen. Habe dann berufsbegleitend in Heerlen studiert und den Bachelor gemacht. Seit letztem Jahr bin ich freiberuflich für verschiedene Praxen unterwegs und ab Oktober habe ich dann meine eigene Praxis, wenn die Räume bis dahin fertig sind (lacht) genau. Ja so viel erstmal zu mir.

Sara Mohr: Genau, meine Geschichte ist ein bisschen ähnlich. Ich bin seit 2010 Ergotherapeutin und Sarah und ich sind uns begegnet auf der Arbeit in einer Praxis. Deshalb ist Sarah auch schuld, dass ich auch studiert habe. Ich hab die Tage nochmal überlegt. Wir waren zusammen auf dem Ergo Kongress, ne? Und haben da beschlossen…

Sarah Bühler: … das wir studieren. Und da ich schon mit der Fokus (Ergotherapie-Schule) gesprochen hatte und dass das jetzt alles ganz schnell gehen muss, wenn wir das noch dieses Jahr starten wollen. 

Sara Mohr: Ja, 2017 haben wir das Studium dann angefangen, eigentlich relativ spontan. Weil uns zusammen studieren nicht gereicht hat, bin ich dann auch noch bei Sarah eingezogen (lacht). Wir haben zusammen unsere Bachelorarbeit geschrieben. Ich selber hab auch immer in verschiedenen ambulanten Praxen gearbeitet, hauptsächlich mit neurologischen Klient*innen. Aber die Arbeit in der Praxis – ich glaube, das wissen alle Ergos da draußen, die auch in Praxen arbeiten – ist immer sehr bunt und man kann jetzt nicht sagen „Ich arbeite aber nur mit Schlaganfall Patienten”, man hat immer die bunte Mischung, und das finde ich das Spannende am Arbeiten in der Praxis. Sarah, warum müssen wir über Evidenzbasierung reden?

Sarah Bühler: Das ist eine gute Frage.

Sara Mohr: Warum müssen wir eigentlich über Evidenzbasierung reden? Warum machen wir diesen Podcast?

Sarah Bühler: Weil uns Evidenz so wichtig ist, im Praxis Alltag und es tatsächlich schwierig ist, das immer wieder zu integrieren. Mhm und weil man auch feststellt, also ich zumindest in der Praxis, man lässt sich doch immer wieder leiten. Dann heißt es “Ich habe eine Studie gelesen” oder es steht ein Vertreter mit einem Hochtontherapie-Produkt vor der Tür und sagt “Ich habe dazu ganz viel tolle Studien und das ist das Nonplusultra” und man sitzt da und denkt so ja, und jetzt?

Sara Mohr: (lacht) Ich habe gehofft, dass wir auf dieses Gerät zu sprechen kommen. Ja, aber nicht nur dann, sondern auch wenn ich überlege was für eine Fortbildung mache ich denn nächstes Jahr? Da gibt es einfach 3000 und ich möchte halt eine wählen die für meine Klientel passt, auf die ich persönlich Lust habe. Aber ich möchte ja auch was nehmen, wo es nicht in einem Jahr heißt, ja, das war übrigens nur Hokuspokus und bringt den Leuten eigentlich gar nichts.

Sarah Bühler: Also ja, aber es soll trotzdem vorkommen, dass man solche Fortbildungen auswählt. (lacht)

Sara Mohr: (lacht) Soll vorkommen.

Sarah Bühler: Aber was ich auch nochmal wichtig finde ist-  oder warum Evidenzbasierung so wichtig ist, weil wir in der Praxis eben so ein buntes Klientel haben und uns immer wieder neu einstellen müssen und wir können nicht alles wissen. Sondern eben dann zu recherchieren, zu gucken was steht denn eventuell in der Leitlinie? Wie behandle ich? Wie gebe ich dem*r Klient*in jetzt die bestmögliche Behandlung?

Sara Mohr: Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen über Evidenzbasierung spreche, dann ist es immer so ein Thema, das triggert so ein bisschen oder es ist es ist schon heiß diskutiert. Und mir passiert es zum Beispiel, seit ich studiert habe öfter, dass wenn ich jetzt mit Kolleginnen und Kollegen spreche, die mich nicht so gut kennen und die selber nicht studiert haben und dann sag ich was mit Evidenzbasierung und dann krieg ich so…, dann wird mir so ein bisschen unterstellt, dass ich ja fachlich oder fachpraktisch dann quasi nicht so viel Ahnung habe, wenn ich ja mich nur auf die Theorie verlasse, in Anführungszeichen. Weißt du wie ich das meine?

Sarah Bühler: Ich weiß, wie du meinst, ja. Aber da finde ich immer noch mal wichtig, auch zu kommunizieren, dass Evidenz eben aus verschiedenen Teilen besteht, eben einmal das wissenschaftliche, dass wir über die Studien kriegen, aber natürlich auch ganz viel Erfahrungswissen, das zählt da ja auch mit rein und das ist auch nicht weg zureden. Ursprünglich ist Ergotherapie ja auch ein Beruf, der sich aus dem Tun entwickelt hat.

Sara Mohr: Oh, das ist ein schöner Satz. Den hätte ich gerne als Zitat oder als Überschrift. Schön, ich habe mir mal überlegt was sind denn so die größten Vorurteile zum Thema evidenzbasiertes Arbeiten? Und was mir ganz oft begegnet und das ist so ein bisschen das, was ich gerade gesagt habe, dass evidenzbasiertes Arbeiten heißt, sich blind auf Studien zu verlassen. Also zum Beispiel steht in der Leitlinie zu Krebserkrankungen drin, dass Ergotherapie da Feinmotorik-Übungen machen kann. Also mach ich jetzt mit allen meinen Patienten nach einer Krebserkrankung – Ich sage absichtlich jetzt Patienten – mach ich dann Feinmotorik-Übungen, oder?

Sarah Bühler: (provokativ) Klar, warum denn auch nicht?

Sara Mohr: (lacht) So ist es nicht gemeint! Blind auf Studien vertrauen, finde ich, kann sogar ziemlich gefährlich sein, also nur weil eine Studie was gezeigt hat, heißt es ja nicht, dass das so stimmt.

Sarah Bühler: Ja also, ich muss da immer wieder an diesen an diesen Hochtontherapie-Typ denken, das war ja für mich irgendwie so ein Schlüsselerlebnis. Der hat mir da Studien hingelegt, hat gesagt das funktioniert alles. Und ich halt erstmal dachte “Aber was für Studien sind das?” Also ich verstehe einfach auch das Prinzip nicht wie die Studie aufgebaut ist, dass ist da nicht beschrieben. Also das fand ich schwierig.

Sara Mohr: Und deshalb würde ich gerne in den nächsten Folgen so ein bisschen das Thema Qualität von Studien behandeln. Weil Studie nicht gleich Studie ist. Und ich würde gerne so ein bisschen in die tiefen Abgründe der wissenschaftlichen Fachzeitschriften schauen und vielleicht finden wir- also ich bin mir sicher, dass wir auch die eine oder andere Stunde finden, wo die Qualität mindestens fragwürdig ist. Und wir darauf aufbauend entsprechende Entscheidungen treffen müssen. Evidenzbasiertes Arbeiten ist ja immer ein Entscheidungen treffen, aber eben informierte Entscheidungen. Und dafür muss ich die Qualität von Studien einschätzen können, also nicht blind vertrauen. Okay. Vorurteil Nummer 2: Wenn ich evidenzbasiert arbeite, dann krieg ich ja einfach eine Behandlungsanweisung nach Schema F.

Sarah Bühler: Man kriegt einen Ansatzpunkt, würde ich sagen. Nichtsdestotrotz sind wir ja alle Ergotherapeut*innen und wenn wir uns an den ergotherapeutischen Inhaltsmodellen orientieren dann haben wir ja immer auch eine ganzheitliche Sichtweise. Beziehungsweise machen eine Betätigungsanalyse und anhand dieser Analyse krieg ich Breakdown Points raus und anhand dieser Breakdown Points wähle ich dann, was braucht denn mein Klient oder gemeinsam wählen wir das aus. Und dann ist es eben gut, wenn ich sagen kann okay, hier sind jetzt eben eher im funktionellen Bereich Schwierigkeiten. Da gibt es evidenzbasierte Vorgehensweisen. Oder eben zu sagen, bei ADHS ist aber die Umfeldberatung auch ein ganz großer Teil, oder die Elternberatung, die auch in den Leitlinien erwähnt ist, deshalb können wir vielleicht eher in diese Richtung zu gehen.

Sara Mohr: Ah ja du meinst man kriegt die Möglichkeiten quasi und muss dann aber wieder den individuellen Fall…

Sarah Bühler: …Individuell für die Klient*innen oder mit den Klient*innen entscheiden. Weil das finde ich auch immer so schwierig, wenn für die Klient*innen entschieden wird, weil es gibt doch nicht den einen richtigen Weg. Sondern es muss immer…

Sara Mohr: (ruft dazwischen) Aber warum denn nicht?

Sarah Bühler: Ja, aber es muss immer zur Familie passen!

Sara Mohr: Aber manchmal wünsche ich mir, vielleicht kennst du das auch, manchmal hat man so Tage da wünschst du dir so eine ganz stupide Anleitung.

Sarah Bühler: Oh, wünsche mir morgens aufzustehen und zu wissen, ich mache heute mit dem Klienten genau das, mit dem nächsten das und das. Und alles läuft genauso ab, weil die ja keine Gefühle haben und nicht reagieren, sondern die machen das auch ganz genau so wie ich sage und das läuft nach Plan (lacht).

 Sara Mohr: (lacht) Manchmal wünsche ich mir wirklich so eine schriftliche Anleitung, wie für einen Kühlschrank, wo drinsteht: Patient mit Diagnose X? Da machst du Behandlung Y und damit erreichst du dein Ziel Z. Sowas wünsche ich mir manchmal und es wäre so schön, wenn evidenzbasierte Praxis so funktionieren würde (lacht). Nein! Es wäre superlangweilig wenn evidenzbasierte Praxis so funktionieren würde (lacht). Weil wie du sagst, weil es halt auch super individuell ist, also was bei dem einen Klienten funktioniert, funktioniert bei der nächsten Klientin nicht, selbst wenn es vielleicht dasselbe Krankheitsbild ist.

Sarah Bühler: Ja, und alle haben halt auch einen unterschiedlichen Alltag und erstmal muss ich ja auch rausfinden was ist denn da von Bedeutung?

Sara Mohr: Also: auch Evidenzbasierung, liefert uns keine kein Schema F für die Ergotherapie. Vorurteil Nummer 3: da haben wir eben auch schon drüber gesprochen, in der evidenzbasierten Praxis hat Berufserfahrung keine Bedeutung.

Sarah Bühler: (Stille)

Sara Mohr: (lacht) Es ist schade, dass ihr das nicht sehen könnt, Sarah guckt ganz gequält, wenn ich sowas sage.

 Sarah Bühler: Ja, weil das ist doch einfach Bullshit.

Sara Mohr: Ich glaube, das ist tatsächlich das Schlimmste, von diesen drei Vorurteilen und weshalb vielleicht Leute auch skeptisch eingestellt sind gegenüber der Evidenzbasierung, weil sie denken, die eigene Expertise, mein Fachwissen zählt dann nicht mehr nur weil irgendwo auf Papier geschrieben steht, dass das und das eigentlich anders ist. Dabei ist ja – das haben wir eben auch schon kurz angesprochen – besteht Evidenzbasiertes Arbeiten ja aus drei Komponenten. Es besteht klar aus wissenschaftlicher Forschung, aus Leitlinien, aus Studien. Aber eben die zweite Komponente ist dein Fachwissen, deine Expertise, deine Berufs- und Lebenserfahrung. Und der dritte Baustein ist die Perspektive der Klient*innen, die Wünsche und deren Erfahrungen, deren Alltag, deren Probleme. Und evidenzbasiert arbeite ich nur, wenn ich alle diese drei Teile miteinander verbunden bekomme. Wenn ich mein Fachwissen voll da rein schmeiße, wenn ich es schaffe, meine Klient*innen zu engagieren, wenn ich mich nach deren Wünschen und Perspektiven richte.

Sarah Bühler: Genau das wollte ich gerade sagen. Auf deren Wünsche und Perspektiven eingehen, weil ich kann noch so gute Studien haben, wenn die sich diesem Ansatz verweigern und das aus was für einem Grunde auch immer, nicht wollen, dann ist es nicht der Richtige für die.

Sara Mohr: Und das ist das ist vielleicht der Grund, warum wir diesen Podcast machen Sarah.

Also ich kenne mein Fachwissen, ich würde jetzt mal behaupten wir alle da draußen kennen auch mehr oder weniger unsere Klient*innen und können klientenzentriert arbeiten aber up to date zu sein, was wissenschaftliche Evidenz angeht…

Sarah Bühler: Ist so schwierig, das ist so schwierig.

Sara Mohr: Ja. Ich habe dazu eine Studie gefunden…

Sarah Bühler: (gleichzeitig) Ich habe dazu mal was gelesen, weiß die Zahlen aber nicht mehr…

Sara Mohr: Ich hab das hier. Also du hast eine Fragestellung in der Praxis und um eine dazu passende Studie zu finden, musst du im Schnitt hundert Studien lesen (Straus et al., 2018).

Sarah Bühler: (sarkastisch) Ja klar. Das ist einfach nicht machbar im Praxisalltag. Ich erinnere mich an diese Studie… oder weißt du noch wie das war? Es werden soundsoviele Studien veröffentlicht…

Sara Mohr: Pro Tag werden 7000 wissenschaftliche Fachartikel veröffentlicht (Ware & Mabe, 2015). Ich bin mir nicht sicher, ob das allgemein oder sogar nur für den Bereich Medizin und Gesundheitsforschung war.

Sarah Bühler: Ja also, es ist unmöglich, immer up to date zu sein und ich glaube, diesen Anspruch sollte man auch nicht haben. Aber es ist wichtig, trotzdem zu überlegen: Wie integriere ich das in den Praxisalltag? Um zumindest zu wissen, was ist denn gerade so der Trend?

Sara Mohr: Ja, und das ist dann eben auch ein Stück weit, Teamwork. Also es ist erstmal Teamwork sowieso, weil ich mit den Klient*innen zusammenarbeiten muss, aber es ist auch Teamwork, weil ich ja auch mit meinen Kolleginnen und Kollegen michaustauschen kann, “Hast du mal was dazu gelesen, was man bei dem und dem Krankheitsbild macht, weil da kenne ich mich nicht aus.” Also deshalb ist es immer Teamwork. Und deshalb glaube ich, macht es auch Sinn, dass wir diesen Podcast als Teamwork machen. Das heißt, liebe Zuhörenden, wenn ihr Fragen aus der Praxis habt, wenn bei euch auch manchmal komische Vertreter in der Praxistür stehen und euch Geräte verkaufen wollen, bei denen ihr euch nicht sicher seid, ob das vielleicht Hokuspokus ist, wenn euch irgendeinem Thema schon immer interessiert hat und ihr wolltet da die Studienlage wissen, dann schreibt uns eine E-Mail und wir gucken uns das an für euch. Wir machen den Faktencheck für euch. Wir sammeln ein bisschen Evidenz, und ihr kriegt die frei Haus geliefert. Zweimal im Monat (Pause) zweimal im Monat, kriegen wir hin, oder? Sarahs rechtes Auge zuckt.

Sarah Bühler: Kommt auf die Fragen an. Wenn ich überlege, hundert Studien…

Sara Mohr: Ja, bitte keine schweren Fragen (lacht) denn wir müssen dann hundert Studien lesen, um diese eine Frage zu beantworten. Aber das machen wir gerne. Weil wir die Evidenzbasierung ein bisschen nach vorne bringen wollen. Außerdem- ich mach jetzt kurz ein bisschen Hausmeisterei für den Podcast fertig – außerdem werden wir zu jeder Folge ein Skript liefern. Einfach, weil wir so inklusiv wie möglich sein möchten und damit ihr nachher eine Übersicht bekommt, über die Quellen und Studien und die Literatur, die wir benutzt haben und falls ihr Lust habt, tiefer in das Thema einzusteigen, wenn euch danach ist. Liebe Sarah, passend zum heutigen Thema habe ich direkt eine Studie mitgebracht. Oder sogar 2 Studien. Zum Thema Evidenzbasierung in der Ergotherapie. Denn natürlich sind nicht wir nicht die ersten, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Und ich möchte gerne zuerst erzählen von einer Studie von 2018 von Lindström und Bernhardsson, und die haben in Schweden eine Umfrage gemacht unter Ergotherapeut*innen und deren Einstellungen, Meinungen zu evidenzbasierter Praxis erfragt. 94 Leute haben teilgenommen. Und was erstmal schön ist, weil wenn man so Umfragen oder so Befragung macht, dann- klar du kannst dich hinsetzen, kannst dir Fragen ausdenken und die den Leuten stellen. Ein bisschen höhere Qualität hat das Ganze aber, wenn du dir nicht einfach die Fragen ausdenkst, sondern wenn du einen Fragebogen nimmst, der bereits existiert. Und der überprüft wurde, ob der tatsächlich die Themen abdeckt, die er vorgibt, abzudecken und so einen Fragebogen haben sie genommen. Der wurde ursprünglich für Physiotherapeut*innen entwickelt in Amerika. Die haben den aber dann natürlich entsprechend angepasst an den schwedischen Kontext und für die Ergos. Ich würde davon ausgehen, dass evidenzbasiertes Arbeiten bei Physiotherapeut*innen und bei Ergotherapeut*innen nicht so grundsätzlich anders aussieht. Die Fragen haben sich dann bezogen darauf: wie bist du eingestellt gegenüber evidenzbasierter Praxis? Was ist dein Wissen zu evidenzbasierter Praxis? Aber auch was sind Ressourcen oder Barrieren für evidenzbasiertes Arbeiten?

Sarah Bühler: Spannend!

Sara Mohr: Ja, spannend. Ich finde, wenn man sich die Zahlen anguckt, wer teilgenommen hat oder was für Leute teilgenommen haben und man sieht 90% Frauen, dann denkt man erstmal, shit, das ist aber nicht sehr repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Aber ich glaube, es ist sehr repräsentativ für die Ergotherapie. Deshalb lassen wir das mal gelten. Wir haben eine relativ gleichmäßige Altersverteilung, es haben tatsächlich Leute zwischen 20 und 60 Jahren teilgenommen. Und mit der Berufserfahrung zwischen 3 Jahren und über 20 Jahren also ganz breites Feld abgedeckt. Weil es in Schweden durchgeführt wurde haben 80% der Teilnehmenden einen Bachelorabschluss.

Sarah Bühler: Okay.

Sara Mohr: Weil du in Schweden schon sehr viel länger als in Deutschland den Bachelor machen musst in Ergotherapie, weil es die Ausbildung nicht gibt.

Sarah Bühler: Genau das ist ja schon auch ein Unterschied zum deutschen Kontext.

Sara Mohr: Genau, ich glaube, das könnte auch tatsächlich einen Unterschied machen für evidenzbasiertes Arbeiten, weil glaube ich im Studium nochmal mehr… ich will jetzt nicht sagen “gezwungen”…

Sarah Bühler: Es spielt eine große Rolle.

Sara Mohr: Ja, du musst wissenschaftlich arbeiten ein Stück weit. Zumindest verstehen, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert.

Sarah Bühler: Ja, und man hat sich ja halt damit schon einmal auseinandergesetzt, wenn ich jetzt denke, man ist 20 Jahre in der Praxis, hat damit einfach wenig zu tun gehabt und macht dann bei so einer Umfrage mit, glaube ich, ist das schon noch mal was anderes. 

Sara Mohr: Was kam raus bei der Umfrage? Wie gesagt 94 Leute haben teilgenommen, das ist nicht so super viel, aber die Ergebnisse sind trotzdem ganz interessant. Die sagen nämlich, dass fast alle, 97% sagen erst mal “ja, evidenzbasiertes Arbeiten ist wichtig für die Ergotherapie.”. So das ist schon mal schön, dass wir uns da einig sind. Genau so viele, auch wieder 97% sagen, aber “ich müsste meine Fähigkeiten evidenzbasiert zu arbeiten, echt verbessern.”. Ich glaube, das würde ich so unterschreiben. Es ist ja auch nicht nur Studien lesen, es ist ja dann auch dieses Übertragen in die Praxis tatsächlich. Die haben nicht nur gefragt, liest du ab und zu eine Studie, sondern die haben wirklich gefragt, schaffst du auch den Transfer in den Berufsalltag? Und wie sind da deine Skills? Und da möchte ich auf jeden Fall auch Skills verbessern.

Sarah Bühler: Ja, ich glaube, man muss sich bewusst machen, dass das immer ein Prozess ist, also das ist das, was ich so schwierig finde. Ich lese was und dann will ich das implementieren, aber dann ist total die stressige Woche…

Sara Mohr: Ja, und dann ist wieder eine Woche später genau.

Sarah Bühler: Also ja, wir müssen jetzt erstmal nicht auf meine Strategien dazu eingehen…

Sara Mohr: Aber wir gehen auf deine Strategien dazu ein, oder?

Sarah Bühler: Weiß nicht… 

Sara Mohr: Darauf hoff ich doch sehr, dass du Strategien hast, denn ich erzähle dir jetzt die ganzen Probleme, die hier herausgefunden wurden. Pass auf, weiteres Problem: Nur die Hälfte der Befragten, 52%, sagen, dass sie keine Probleme damit haben, passende Studien zu finden für ihre Fragestellungen aus der Praxis. Ich finde ja 50% eigentlich schon ziemlich viel dafür also, dass die Hälfte sagt “Ja, ich finde Studien, wenn ich eine Fragestellung habe.”

Sarah Bühler: Das Finden ist ja nicht das Problem.

Sara Mohr: Ja, stimmt auch wieder.

Sarah Bühler: Das Eingrenzen würde ich eher sagen, so gefühlt.

 Sara Mohr: Das und das Einordnen dann auch. Ja, was ist das jetzt für eine Studie? Ja… 

Sarah Bühler: Ja, genau.

Sara Mohr: Sarah, Frage an dich: Wie oft im Monat durchsuchst du tatsächlich wissenschaftliche Datenbanken auf der Suche nach Studien in so einem normalen Vollzeit Arbeitsmonat? Wie oft setzt du dich hin und sagst “So, jetzt habe ich da meine Frage, jetzt formuliere ich die mal nach Pico und dann suche ich aber mal nach passenden Studien.”

Sarah Bühler: Es gibt Monate, da passiert das 10 mal und es gibt Monate, da passiert das gar nicht. Das kommt aufs Klientel an, was gerade ansteht.

Sara Mohr: Und so im Schnitt?

Sarah Bühler: 4 mal.

Sara Mohr: Das finde ich sogar schon ganz schön viel. Wenn ich so überlege, selbst nach dem Studium war es selten so, dass ich mich wirklich hingesetzt hab und gesagt hab „Da mache ich jetzt mal wirklich so eine strukturierte Literaturrecherche.”. Ich habe eher gesagt: “Ach ich guck mal in den Leitlinien, ob es da was zu gibt.” oder ich bin über eine Studie gestolpert und dachte “Oh ja, das ist ja interessant, die lese ich jetzt mal.” aber so wirklich so eine richtige Literaturrecherche mach ich selten und ich muss dir sagen, ich könnte damit auch nach Schweden ziehen. Denn über 90% der schwedischen Ergotherapeut*innen führen weniger als zwei Literatursuchen pro Monat durch. Das spiegelt aber glaube ich einfach, da kommen wir nachher bei den Barrieren auch nochmal zu, ein Problem wider: Das nämlich einfach Zeit vielleicht gar nicht da ist.

Ja, weg von den Datenbanken zu den Fachartikeln, wie viele Fachartikel liest du pro Monat?

Sarah Bühler: Oh wir dürfen die letzten 3 Monate nicht als Referenz nehmen, da habe ich wenig gelesen.

Sara Mohr: In so einem Durchschnittsmonat.

Sarah Bühler: Also in einem durchschnittlichen Monat, das kommt drauf an. Ich lese halt die Fachzeitschriften, die wir in die Praxis kriegen. Die ergoscience und die Ergotherapie und Rehabilitation und die Blaue (lacht)

Sara Mohr: Die ergopraxis?

Sarah Bühler: Die ergopraxis, sorry (lacht). Die blaue, die orangene und die grüne. Die grüne kommt nicht so oft wie die anderen.

Sara Mohr: Ja, die ergoscience kommt nur 4-mal im Jahr.

Sarah Bühler: Ja, die lese ich und tatsächlich ich nutze relativ viel die Datenbank vom DVE wenn ich eine Frage zu irgendwas habe. Wobei mich da dieses Suchschema manchmal verrückt macht, weil das eben nicht ist wie in den Datenbanken. Aber gut.

Sara Mohr: Ja, ich glaube auch Artikel lese ich Monat wirklich mehr. Alleine weil ich- Liebe Freunde der Nacdht, einmal im Monat mache ich einen Literature Day. Das ist meistens der erste Samstag im Monat, da mache ich den ganzen Tag nichts außer Studien lesen. Einfach weil ich so ein komischer Mensch bin und mich das super glücklich macht, Studien zu lesen. Und lustigerweise…ach habe ich gar nicht erzählt, ich studiere momentan noch im Master, dafür muss ich natürlich viele Studien lesen und dann ist es aber immer so ne, du musst jetzt für die Hausarbeit zu dem Thema recherchieren und dann musst du dann noch mal mindestens fünf Studien heute lesen, um zu gucken, dass du was niedergeschrieben bekommst. Aber an meinem Literature Day lese ich nur die Studien, die ich gut finde und wenn ich nach der halben Studie merke, dass das mich gar nicht interessiert, dann höre ich einfach auf zu lesen. Und es ist so angenehm, wenn einfach mal meine Aufmerksamkeitsspanne gewürdigt wird. So Aufmerksamkeit ist vorbei, okay, leg den Artikel weg, nimm den nächsten. Und das macht mich sehr glücklich.

Wie kommen wir jetzt dahin? Ach so ja, deshalb lese ich, glaube ich, mehr als zwei Fachartikel pro Monat. Das ist glaub ich, auch leichter mit den Publikationen, die wir auf Deutsch haben, weil natürlich sind die Artikel in der in der ET und Reha oder in der ergopraxis auch einfach ein bisschen angenehmer zu lesen als so eine furztrockene Studie.

Sarah Bühler: Ja, vor allem, weil dann hast du das gelesen und dann weißt du immer noch nicht, was du damit machst, weil du dann erstmal gucken muss, wie ist die aufgebaut.

Sara Mohr: Also ja, dich mach das nicht glücklich, ne? (lacht)

Sarah Bühler: Nicht so glücklich. Ich lese meine Fachzeitschriften und recherchiert das, was ich brauche. Ich brauche immer einen direkten Nutzen. Sonst ist das für mich super schwierig dran zu bleiben und das funktioniert dann einfach nicht.

Sara Mohr: Stimmt, macht total Sinn, eigentlich diesen Praxis Bezug, so dahinter zu haben, ne?

Sarah Bühler: Ja, also ich weiß, der Patient kommt nächste Woche, oder die Patientin und ich habe ihm gesagt, ich recherchiere.

Sara Mohr: Das ist gut, du machst dir selber eine Deadline, indem du deinen Leuten sagst, dass du das nachliest, das ist natürlich eine gute Technik.

Sarah Bühler: Und dann gibt es Wochen, wo ich trotzdem sagen muss: “Ach da gab es so viel, und das war so kompliziert, das habe ich einfach nicht geschafft.” und ich hatte noch nie jemand, der gesagt hat “Warum denn?” , sondern die waren alle immer froh, dass jemand den Kram liest.

Sara Mohr: Also halten wir fest als Zwischenstand: Evidenzbasierte Vorgehensweise was Datenbanksuchen und Lesen von Artikeln in Schweden angeht, ist gar nicht so unähnlich zu unserer Wahrnehmung. Dann haben Sie noch gefragt in dieser Studie nach der Nutzung von Leitlinien. Und da –

Sarah Bühler: (unterbricht) Das ist ja krass! Ja, sorry, ich muss erst sprechen sorry, ich habe schon gelesen.

Sara Mohr: Hey nicht spoilern (lacht). Also, worauf ich noch kurz allgemein zu Leitlinien hinauswill. Ich weiß nicht, wie die Lage in Schweden ist, aber für Deutschland ist es ja zum Beispiel so, dass wir keine speziellen ergotherapeutischen Leitlinien in dem Sinne haben. Der DVE kümmert sich ganz viel darum, dass die Ergotherapie eben in den allgemeingültigen medizinischen Leitlinien zum Beispiel von der AWMF vertreten ist also, dass eben auch andere Berufsgruppen mitbekommen, dass bei dem Krankheitsbild auch Ergotherapie empfohlen wird.

Sarah Bühler: Vor allem die, die die Verordnungen schreiben.

Sara Mohr: Genau, weil da hauptsächlich die Ärzt*innen eben darauf zugreifen. Genau deshalb gibt es für Deutschland keine spezifischen ergotherapeutischen Leitlinien. Aber das heißt nicht, dass die anderen Leitlinien nicht genauso wichtig für uns wären. Ist übrigens superspannend in anderen Ländern mal in die Leitlinien reinzugucken. Also zum Beispiel die Briten haben spezifische, ergotherapeutische Leitlinien oder auch hier in Australien gibt es auch spezifische ergotherapeutische Leitlinien und das passt natürlich nicht immer hundertprozentig auf den deutschen Kontext, aber manchmal ist es schön. Weil Leitlinien ja immer wirklich so ganz klar Empfehlungen formulieren: so in der Situation mit dem Krankheitsbild mit den Symptomen sagt die Evidenz das und das könnte gut funktionieren. Und da fühlt man sich immer so ein bisschen an die Hand genommen. Das finde ich eigentlich ganz schön.

In der Umfrage gingen die schwedischen Ergotherapeut*innen mit mir konform, da sagen nämlich alle 100%, dass die Nutzung von Leitlinien in der Ergotherapie wichtig ist. Und dann kam glaube ich, das wo du vorhin meintest…

Sarah Bühler: Ja, ich bin darüber gestolpert, weil wenn ich manchmal von Leitlinien spreche, wissen einige gar nicht, was das ist oder wo man sie findet.

Sara Mohr: Ja, genau 47% also weniger als die Hälfte wissen, wo sie Leitlinien überhaupt finden im Internet. Ich hätte jetzt einfach also jetzt mal ganz blöd gesagt, wenn du googelst “Leitlinie”, dann findest du auch die Homepage der AWMF würde ich jetzt mal behaupten.

Sarah Bühler: Ja, aber dann musst du ja trotzdem das in Verbindung bringen.

Sara Mohr: Ja, gut, klar. Also kurze Werbung für die AWMF: Die Leitlinien sind alle kostenlos und offen verfügbar auf der Homepage der AWMF. Ich mache einen Link ins Skript.

Sarah Bühler: Von manchen Leitlinien gibt es auch Patientenleitlinien und Kurzfassungen. 

Sara Mohr: Das stimmt also so eine Leitlinie hat halt locker, aber mal locker hundert Seiten, wenn nicht sogar mehr, je nachdem, was es für eine ist. Also die fangen immer an, dass sie erstmal ganz ausführlich beschreiben, wie wird denn die Erkrankung diagnostiziert? Was sind übliche Symptome? Welche Medikamente können eingesetzt werden? Also da geht es wirklich ganz breit um alle möglichen Behandlungsmöglichkeiten. Und die Ergotherapie – wenn sie erwähnt wird in der Leitlinie –  nimmt meist einen sehr, sehr kleinen Stellenwert ein.

Sarah Bühler: Wir sprechen von einem Absatz.

Sara Mohr: Oft wir sprechen wir von einem Absatz und dann sind wir sehr froh. Was ich deshalb mache, ist entweder, wie du schon sagst, ich lese gerne die Kurzfassung der Leitlinien und diese Patientenfassungen sind wirklich toll. Also die sind halt wirklich in Alltagssprache geschrieben. Allgemeine Informationen über das Krankheitsbild, Behandlungsmöglichkeiten und so, dass man auch sowas gut mal gerade Klient*innen, die sich da mehr informieren möchten, einfach mal in die Hand geben kann. Also ich finde die super und ich benutze die auch gerne und ansonsten, wenn ich nur die Langfassung habe, dann gebe ich einfach im Suchfeld “Ergotherapie” ein und schaue nur da. Da bin ich manchmal ganz faul.

Sarah Bühler: Ja, ich starte meistens bei dem Punkt “nicht-medikamentöse Therapie”. Das grenzt dann schon mal ein.

Sara Mohr: Dann haben sie noch eine statistische Analyse gemacht von den Ergebnissen. Welche Therapeut*innen denn jetzt am ehesten Leitlinien benutzen? Ob es da irgendwelche Faktoren gibt, ob besonders junge Leute eher Leitlinien benutzen oder Leute mit viel Berufserfahrung und sie haben lustigerweise herausgefunden, dass Faktoren gerade wie Alter, die Bildung, also ob du ein Studium gemacht hast oder nicht, das Geschlecht hatten keinen Einfluss darauf, ob die Ergotherapeut*innen Leitlinien in ihrer Praxis nutzen oder nicht. 

Sarah Bühler: Also wenn der*die Therapeut*in weiß, es gibt Leitlinien, und weiß wie man sie findet, dann werden die auch genutzt, habe ich das jetzt richtig verstanden?

Sara Mohr: Ja und 47% finden die dann auch, ja. 53% halt nicht. (Stille) Woran das liegt, fragst du dich?

Sarah Bühler: Ja, das frag ich mich.

Sara Mohr: Sehr gut.

Sarah Bühler: Ja, sorry, das ist für mich noch schwierig. Ich glaube, ich arbeite immer sehr viel mit Mimik, das kommt nicht so raus. Ja, ich frage mich woran liegt das? Wo verlieren wir diese 53% oder wo werden die verloren?

Sara Mohr: Ja, gute Frage. 72% also fast ¾ sagen, sie haben keine Zeit um Literatur zu recherchieren, um in Datenbanken nachzuschauen, um Leitlinien zu lesen.

Sarah Bühler: Mhm gut verständlich.

Sara Mohr: Ja, dann war noch der am zweithäufigsten genannten Grund: nicht für alle Krankheitsbilder gibt es ergotherapeutische Leitlinien. Das Problem haben wir in Deutschland so ähnlich, also nicht in allen Leitlinien steht eben auch was über Ergotherapie drin. Dann, das haben wir schon besprochen, Leitlinien sind lang und sehr allgemein formuliert, ja. Und den nächsten Punkt fand ich noch sehr schön: Manche haben gesagt, dass es “too much recipe” ist, also die Leitlinie empfiehlt zu sehr ein Schema F und das passt gar nicht auf meine Klientin.

Sarah Bühler: Ja, aber es sind ja keine Richtlinien. Sondern es sind Leitlinien, an denen ich mich orientieren kann, aber nicht muss. Weil tatsächlich muss man Leitlinien ja auch kritisch sehen ja, es ist ja nicht so alles was in der Leitlinie steht ist immer super. Sondern generell kann man ja auch fragen: Wie entstehen die Leitlinien, oder wer ist an der Entstehung beteiligt? Auch das mal hinterfragen.

Sara Mohr: So darüber können wir auch mal eine Folge machen, Sarah, du kannst uns erzählen, wie Leitlinien entstehen und wie das Ganze funktioniert. (Stille) Ihr könnt ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, Sie guckt ein wenig besorgt und nickt. (lacht)

Genau also es gibt Barrieren für evidenzbasiertes Arbeiten, das ist einfach so, wie wir direkt am Anfang schon festgestellt haben. Es ist aufwendig. Die diskutieren in dieser Studie am Ende sehr gut, dass die Ergebnisse, die sie gefunden haben, auch ganz ähnlich in Studien in anderen Ländern gefunden wurden und da bringen sie Studien auf aus Kanada, aus Amerika, Australien, aus Südafrika und aus Österreich. Wir sind nicht alleine und generell sieht man in den Ergebnissen einfach auch diesen Gap zwischen dem, dass alle eigentlich wissen, dass Evidenzbasierung wichtig ist, dann kommt das ABER: ich traue es mir nicht zu oder mir fehlt dazu Wissen, oder mir fehlt die Zeit. Und somit ist es also nicht nur international ein Challenge, sondern es ist auch und das fand ich ganz spannend, interdisziplinär ein Challenge. Direkt am Anfang haben wir ja gesagt, dass dieser Fragebogen für die Physiotherapie entwickelt wurde ähnliche Studien unter Physiotherapeut*innen kommen auch zu ähnlichen Ergebnissen. Genauso wie Studien, die gefragt haben, wie Pflegefachkräfte evidenzbasiertes Arbeiten umsetzen. Und die haben die gleichen Probleme wie wir und sogar die Ärztinnen und Ärzte – und das finde ich ein bisschen gruselig. Also wenn du dir so vorstellst, dass da jetzt ein Ergotherapeut sitzt und der sagt: “Ja, Leitlinien ist wichtig. Ich habe jetzt nicht so viel Zeit zum Lesen und die sind auch immer so allgemein formuliert und die passen nicht zu meinem Klienten.” Okay, dann sagt man vielleicht, ja ist okay, stimmt, ist auch wirklich schwierig mit der ganzen Sache…

Sarah Bühler: (unterbricht) Nee, nee, das stimmt die Einstellung nicht!

Sara Mohr: (unterbricht) Ja, pass auf, es geht noch weiter. Stell dir vor du gehst zu deiner Hausärztin. Und die sagt: “Ach, wissen Sie, Frau Bühler, es gibt eine Leitlinie zu ihrem Krankheitsbild. Ich habe jetzt aber keine Zeit, die zu lesen, und wir wissen auch gar nicht, ob die überhaupt zu ihrer Situation dann passt.” Also wie lange wärst du noch Patientin bei ihr?

Sarah Bühler: Hm, das ist eine gute Frage, wahrscheinlich gar nicht. (lacht)

Sara Mohr: Wahrscheinlich nicht mehr so lange. Wir dürfen jetzt nicht so viel haten.

Sarah Bühler: Ja und ich glaube, man muss das auch nochmal ins Verhältnis setzen. Gerade die Hausärzt*innen, ich weiß nicht, ich bin hier in einer ländlichen Region, hier gibt es nicht mehr so viele. Das heißt, sie sind extrem voll, das heißt, ich glaube tatsächlich, dass die wenig Zeit dafür haben. Aber ich finde es immer noch wichtig sich die Zeit dafür zu nehmen. Das ist dieser Zwiespalt: Qualität vor Quantität.

Sara Mohr: Ja, wir haben eben gesagt täglich werden 7000 Artikel veröffentlicht. Um gut evidenzbasiert zu arbeiten – um mal eine positive Note hier reinzukriegen – heißt das ja nicht, dass man jeden Tag diese 7000 Artikel lesen muss. Das heißt ja nicht, dass man permanent die wissenschaftliche Forschung überwachen muss und gucken muss oh Gott, vielleicht kommt morgen ein neues Forschungsergebnis und dann muss ich meine praktische Tätigkeit um 100% umstellen, das ist es ja nicht. Es ist ja immer noch dieser Dreiklang aus meinem Fachwissen, aus der Klient*innenperspektive und aus der wissenschaftlichen Forschung. Was vielleicht der Punkt ist, den wir mitnehmen können, jetzt aus dieser Studie: wenn man sich nicht mit evidenzbasiertem Arbeiten sicher fühlt, dann ist man damit auf jeden Fall nicht alleine. Das geht den meisten Ergos so und das geht nicht nur den Ergos so und das ist vollkommen ok. Wichtig ist aber, dass wir Wege finden, das zu verändern.

Sarah Bühler: Ja, auf jeden Fall.

Sara Mohr: Genau. Ich hab jetzt noch ganz kurz, weil ich dachte schwedischer Kontext weiß ich relativ wenig darüber, wie sehr sich das auf Deutschland übertragen lässt, da hab ich noch einen Artikel aus Österreich. Von Ritschl und Kolleginnen, weil ich dachte, das ist so n bisschen näher zumindest am deutschen Kontext und die hatten auch ganz ähnliche Ergebnisse. Also die haben auch österreichische Ergotherapeut*innen befragt. Es haben 158 Leute teilgenommen. Schon mal wesentlich mehr. Auch die hatten über 90% Frauenanteil. Was in Österreich anders ist: in Österreich arbeiten Ergotherapeut*innen viel mehr in Kliniken. Da war jetzt zumindest in dieser Studie die Klinik der häufigste Arbeitsplatz, also fast 40% arbeiten in der Klinik. Ich glaube in Deutschland sind wir bei der Hälfte, die ambulant in der Praxis arbeitet, ne? Und der Rest teilt sich so auf zwischen den anderen Arbeitsplätzen. Korrigiert mich, aber ich glaube, das ist so. Und auch in Österreich hatten über 80% einen Bachelorabschluss. Aber auch da war die Berufserfahrung relativ breit, die haben Leute gefragt, die erst 4 Monate im Beruf sind, aber die haben Leute gefragt, die über 40 Jahre schon als Ergotherapeut*in arbeiten. Und da haben – und das Thema greifen wir jetzt nochmal auf – haben 71% gesagt: “Wir kriegen auf der Arbeitsstelle keine Zeit, um Fachliteratur zu lesen oder sich mit Leitlinien zu beschäftigen oder in Datenbanken zu recherchieren.”. Jetzt mal die Frage an die Praxis Inhaberin Sarah,wie macht man das denn mit der Zeit?

Sarah Bühler: Ich finde superschwierig, noch habe ich keine Mitarbeitenden, sodass ich dazu wenig sagen kann, aber ich kann sagen, ich nutze die Lücken dazu. Patient*innen, die nicht kommen, bekommen eine Ausfallsrechnung, ich verliere keinen Umsatz. Ich berechne auch die volle Höhe der Therapieeinheit. Und dann nutze ich diese Zeit sinnvoll, indem ich nochmal was nachschlage. Teilweise bespreche ich mit den Klient*innen, dass wir das auch gemeinsam recherchieren. Ja, das ist dann Therapiezeit.

Sara Mohr: Uh das finde ich ja spannend, hast du das schon mal gemacht?

Sarah Bühler: Ja.

Sara Mohr: Und wie war das so?

Sarah Bühler: Man muss schon ein bisschen Recherche davor machen, dass man halt mit denen auch was findet. Also Leitlinien geht gut. Die Patientenleitlinie ausdrucken, die gehen wir gemeinsam durch. Das sind Möglichkeiten.

Sara Mohr: Ich hatte tatsächlich einmal den Fall, dass ein Klient zu mir kam mit einer Studie. Das war eigentlich ganz spannend, der war durch Zufall über eine Studie gestolpert. Es ging um ein Parkinson Medikament. Das war eine relativ groß angelegte Studie in Großbritannien und da kam raus, dass wenn man dieses Parkinson Medikament eben relativ lange nimmt, dass dann die Wahrscheinlichkeit für Demenz wahnsinnig erhöht ist. Und er hatte quasi einen populärwissenschaftlichen, also einen allgemeinen Artikel über diese Studie gelesen und hatte total Angst, dass er jetzt Demenz bekommt, weil das genau das Medikament war, das er auch nimmt. Und kam dann mit dieser Studie in die Therapie und hat gesagt: “Hier gucken sie, ich muss sofort mit meiner Neurologin sprechen, ich kann dieses Medikament nicht nehmen, ich krieg davon Demenz.” Dann habe ich gesagt, bis nächste Woche recherchiere ich das dann mal. Und er hat natürlich auch mit der Neurologin gesprochen, weil das die Ansprechpartnerin in dem Moment ist. Aber ich fand hat es auch ganz spannend und dann haben wir uns gemeinsam durch diese Studie gewurschtelt. Und das war super interessant, weil das genau darum ging, diesen Punkt klarzumachen: Wir müssen erstmal gucken, die Studienpopulation, die da untersucht wurde, passt überhaupt zu ihnen? Ist das überhaupt für sie gültig? Also haben die vielleicht nur Leute untersucht, die über 85 sind? So sind wir dann so ein bisschen darangegangen. Der Knackpunkt, war dann nachher das – diese Studie war tatsächlich eine gut gemachte, großangelegte sehr wichtige Studie – aber die Teilnehmenden haben alle mehrere Medikamente genommen und hatten alle auch Vorerkrankungen und waren auch alle schon älter und das hat alles auf diesen Klienten nicht zugetroffen. Und das hat ihn dann ein bisschen beruhigt, aber da fand ich das ganz spannend. Das wird tatsächlich das einzige Mal, dass ich so wirklich in der Therapie offen und aktiv das Thema aufgegriffen habe. Aber sonst ist es natürlich im Hintergrund ja immer so ein bisschen Thema. Also wie oft denkt man so gerade bei beiner Neuaufnahme: “Ja aha, da hab ich noch nichts von gehört, das muss ich noch einmal nachlesen.”

Sarah Bühler: Ja, ich hatte das gerade jetzt wieder, da hat jemand zu mir gesagt, ich soll die frühkindlichen Reflexe integrieren.

Sara Mohr: (lacht) Ja, hast du dann sofort gemacht, oder?

Sarah Bühler: Ja ganz klar.

Sara Mohr: Ich möchte auch gerne eine Folge über frühkindliche Reflexe und die Evidenz zur Integration von frühkindlichen Reflexen. (Stille) Ihr könnt es nicht sehen, aber Sarah guckt mich scheel von der Seite an und ist nicht begeistert. Who knows, was wir herausfinden werden? Neue Welten tun sich auf. Über 50% der österreichischen Ergotherapeut*innen finden es problematisch, dass die meisten wissenschaftlichen Studien nicht auf Deutsch veröffentlicht sind.

Sarah Bühler: Finde ich auch problematisch.

Sara Mohr: Wäre so viel schöner. Entsprechend werden dann auch Artikel aus englischsprachigen Fachzeitschriften seltener herangezogen, um Therapieentscheidungen zu beeinflussen. Also wenn ich es nicht verstehe, wenn ich es nicht lesen kann, dann kann es auch nicht meine Therapie beeinflussen. Aber selbst deutschsprachigen Artikel werden nach dieser Studie im Durchschnitt zweimal jährlich oder seltener zur Entscheidungsfindung herangezogen. Und bei dem Punkt habe ich so ein bisschen überlegt ich könnte jetzt auch keine Nummer dran packen, wie viele meiner Entscheidungen ich treffe, weil ich da mal eine Studie zu gelesen habe. Also ich finde das schwierig, das fließt ja auch so ein einfach in mein Fachwissen und in meine Berufserfahrung und dann finde ich es schwierig, nachher auseinander zu dröseln, warum haben wir das jetzt genauso entschieden in der Therapie. Weil es ja so ein Prozess dann auch ist. Oder bin ich da nur einfach sehr unreflektiert?

Sarah Bühler: Ne, ich glaub einfach, man muss sich das so vorstellen. Wir haben unseren Therapiekoffer, das sind Sachen drin und dann ist da halt Wissen drin, dass ich aus Studien gewonnen habe, und das ziehe ich dann halt zu bestimmten Zeitpunkten und es gibt andere Situationen, da ziehe ich das Wissen eher nicht.

Sara Mohr: Aber ist zumindest da im Hintergrund, ja.

Sarah Bühler: Aber es ist da.

Sara Mohr: Fassen wir zusammen. Evidenzbasierung ist wichtig, und da stehen nicht nur wir dafür, sondern auch ganz Schweden und ganz Österreich (lacht). Das haben Studien gezeigt. Aber auch: Es ist nicht so einfach und es gibt Barrieren für evidenzbasiertes Arbeiten.

Sarah Bühler: Wenn ich richtig rausgehört habe, sind die größten Barrieren die Unsicherheit; zu wissen wo man die Studien findet; und Zeit, dass man einfach im Praxisalltag keine Zeit hat Studien zu lesen.

Sara Mohr: Dafür ist jetzt dieser Podcast da. Uns kann man zeitsparend auf dem Weg zur Arbeit oder zum Hausbesuch hören. Gut womit enden wir? Was passiert als nächstes? 

Sarah Bühler: Als nächstes machen wir eine neue Folge.

Sara Mohr: Die nächste Folge wird Sarah vorbereiten. Hast du schon eine Richtung? g Sarah ist die Pädiatrie-Expertin hier. Ich hab wenig Ahnung von Kindern. Ich bin mehr für die Neurologie zuständig und alles andere improvisieren wir uns zurecht.

Sarah Bühler: Ich weiß noch nicht ja, ich bin am überlegen, ob ich was zum Thema umschriebene Entwicklungsstörung mache oder zum Thema Demenz? Wobei das ist beides riesengroß, also… das überlege ich mir bis nächste Woche.

 Sara Mohr: Ja, sehr schön. Wir sind gespannt. Wenn ihr Fragen habt, wenn euch ein Thema unter den Nägeln brennt, freuen wir uns auf eine E-Mail von euch. Wir freuen uns auch über Feedback. Es ist die 1. Folge, deshalb bitte nur nettes Feedback. Böss gemeintes Feedback erst ab der 3. Folge.

Sarah Bühler: Wir werden besser, versprochen.

Sara Mohr: Sehr gut, es hat mir sehr viel Spaß gemacht und ich würde sagen, wir verabschieden uns. Tschüss.

Sarah Bühler: Tschüss.

1 Comment

Sabrina
11. Februar 2024

Hej aus Schweden!
Habe gerade angefangen, in euren Podcast rein zu hören 🙂 Super erste Folge, und spannendes Thema!

Ich hätte 1-2 Tipps, die es vll etwas leichter machen, sich mit dem Thema „Evidenz“ auseinander zu setzen…
– sollte man ein Thema haben, dass einen interessiert, eine spezifische Klientengruppe o.ä, kann man bei PubMed „alerts“ einstellen und so einfacher up to date bleiben
– wir haben in der Klinik den Luxus, 4 Stunden im Monat „Entwicklungszeit“ im Team zu haben, und dort seit letztem Jahr eingeführt, dass eine Person 1x/ Monat einen Artikel liest und ihn in ca 15-20 min zusammenfasst für die Kollegen, zu Anfang konnte jeder sich etwas nach seinem Interesse aussuchen, nach einiger Zeit haben wir gemeinsam spezifische Fragen formuliert…klappt bisher ganz gut, selbst die skeptischen Kollegen finden dies machbar 🙂

Und ja, auch hier gibt es „nationale Richtlinien“ (vom Socialstyrelsen) für unterschiedliche Krankheitsbilder, in denen Ergos manchmal vorkommen.

Macht weiter so!
Sabrina

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