#29 - Warum soll ich mir etwas wünschen, das ich nicht kann?
Betätigungswünsche können ein positiver Start in die Therapie sein! Aber es kann auch gute Gründe geben, warum eine Person solche Wünsche (zunächst) nicht äußert. Die heute Studie beschäftigt sich mit Betätigungswünschen von älteren Menschen, die zu Hause Alltagsunterstützung erhalten.
Geschichten aus dem Alltag: Sarah beobachtet hüpfende Hühner und Sara das Gras beim Wachsen.
Lust auf mehr Evidenz für dein Team?
Die Studie aus dieser Folge:
Granbom, M. (2025). Structured assessments on the desire for activities – ‘Why wish for what I can’t do?’. Scandinavian Journal of Occupational Therapy, 32(1), 2483505.
Infos zum Occupational Gaps Questionnaire:
Hier gibt es die aktuelle Version auf der Homepage der Entwicklerinnen zu kaufen.
Und hier gibt es einen kostenlosen Einblick.
00:00:23 Alltagsgeschichten: Garten, Hochbeete und Hühner
Sara Mohr und Sarah Bühler starten die Folge mit persönlichen Geschichten aus ihrem Alltag. Sarah berichtet von der Neugestaltung ihres Gartens, der im letzten Jahr von den Hühnern zerstört wurde. Sie erzählt, wie sie Staudenbeete anlegt und dabei darauf achtet, nur ungiftige Pflanzen für die Hühner zu wählen. Die Herausforderung besteht darin, die Hühner mit Zäunen von den Beeten fernzuhalten. Sara berichtet von ihren Hochbeeten auf dem Balkon, dem Anziehen von Pflanzen und wie ihr das Gärtnern aktuell Freude und Entspannung bringt. Beide reflektieren, wie solche Betätigungen den Alltag bereichern und Wohlbefinden fördern.
00:06:45 Rückmeldungen zur letzten Folge: Neurofeedback
Bevor das neue Thema startet, greifen Sara und Sarah Rückmeldungen zur vorherigen Folge über Neurofeedback auf. Sie diskutieren eine Hörerinnenzuschrift, die das Thema Masking bei Autismus anspricht: Das bewusste Einsetzen von neurotypischem Verhalten kann zwar belastend sein, aber auch als Skill genutzt werden, wenn Betroffene dies gezielt und selbstbestimmt einsetzen. Eine weitere fachliche Rückmeldung hebt hervor, dass Neurofeedback auf der Ebene der Hirnwellenmuster arbeitet und nicht direkt die Teilhabe adressiert. Die Hosts betonen, dass Teilhabe am besten durch gezielte Förderung von Teilhabe verbessert wird und Neurofeedback eher eine ergänzende Maßnahme zur Arbeit an Körperfunktionen ist.
00:12:07 Themenvorstellung: Betätigungswünsche
Sara leitet das Hauptthema der Folge ein, das durch eine Instagram-Umfrage ausgewählt wurde: Betätigungswünsche. Sie fragt Sarah nach einem eigenen aktuellen Betätigungswunsch, woraufhin Sarah vom Wunsch erzählt, mit dem Hund Stand Up Paddling auszuprobieren. Die Hosts nutzen dies als Einstieg, um die Bedeutung von Betätigungswünschen für Motivation und Zielsetzung in der Ergotherapie zu verdeutlichen.
00:13:20 Betätigungswünsche in der ergotherapeutischen Praxis
Im Praxisalltag ermitteln Sara und Sarah Betätigungswünsche und -anliegen meist über Tagesprofile oder Assessments wie COPM, OSA oder COSA. Sie betonen, wie wichtig es ist, nicht nur Probleme, sondern auch Wünsche und die dahinterliegenden Bedeutungen zu erfragen. Oft steckt hinter einem geäußerten Anliegen (z. B. Autofahren) ein tieferliegendes Bedürfnis wie Unabhängigkeit oder soziale Teilhabe. Die gezielte Nachfrage nach der Bedeutung hilft, alternative Betätigungen zu finden, falls die ursprüngliche Aktivität nicht mehr möglich ist.
00:16:12 Studienbesprechung: „Why wish for what I can’t do?“
Sara stellt eine aktuelle Studie aus Schweden vor, die sich mit Betätigungswünschen älterer Menschen im Homecare-System beschäftigt. Die Forscherin nutzte den Occupational Gaps Questionnaire, bei dem Teilnehmende angeben, welche Aktivitäten sie aktuell ausführen und welche sie sich für die Zukunft wünschen. Die Studie zeigt, dass viele ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf überraschend wenige Betätigungswünsche äußern.
00:28:04 Ergebnisse der Studie: Gründe für fehlende Betätigungswünsche
Die Auswertung der Interviews ergab drei Hauptgründe, warum Betätigungswünsche selten geäußert wurden:
Kosten: Viele Aktivitäten sind mit Ausgaben verbunden, sei es für die Aktivität selbst oder für Assistenz. Die Teilnehmenden verzichten häufig aus finanziellen Gründen auf bestimmte Wünsche.
Körperliche Einschränkungen: Viele Betätigungen erscheinen aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr realistisch. Die Selbstwirksamkeitserwartung beeinflusst, ob ein Wunsch überhaupt entsteht.
Strukturelle Rahmenbedingungen: Die Teilnehmenden haben gelernt, dass das Unterstützungssystem (Homecare) nur begrenzte Möglichkeiten bietet. Wünsche, die als unerfüllbar wahrgenommen werden, werden oft gar nicht mehr geäußert.
Ein weiterer zentraler Punkt: Wenn Wünsche geäußert wurden, bezogen sie sich häufig auf das gemeinsame Tun mit anderen – nicht auf Selbständigkeit, sondern auf soziale Teilhabe.
00:35:05 Reflexion: Bedeutung von Selbständigkeit und Teilhabe
Sara und Sarah diskutieren, dass Selbständigkeit nicht für alle Klient*innen das wichtigste Ziel ist. Für manche ist das Erleben von Kontrolle oder das gemeinsame Tun entscheidend. Sie stellen Metaphern und Methoden aus der handlungsorientierten Diagnostik und Therapie (HODT) vor, wie z. B. die „Schnur mit Perlen“, um im Gespräch die individuellen Kerne einer Betätigung sichtbar zu machen. Sie betonen, dass es legitim ist, Hilfe anzunehmen und dass Teilhabe auch mit Unterstützung möglich ist.
00:40:31 Altersaspekte: Wünsche und emotionale Bedeutung
Die Hosts greifen auf, dass mit steigendem Alter Betätigungswünsche oft kleiner und emotional bedeutsamer werden. Langfristige, aufwendige Aktivitäten wie Reisen verlieren an Bedeutung, während kleine, alltagsnahe und sozial-emotionale Betätigungen wichtiger werden. Das Aufgeben von Wünschen kann auch ein Coping-Mechanismus sein, um Enttäuschungen zu vermeiden.
00:42:18 Strukturelle Beschränkungen und der „Horizont der Möglichkeiten“
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass institutionelle Rahmenbedingungen den „Horizont der Möglichkeiten“ der Klient*innen einschränken. Wenn Unterstützungssysteme dauerhaft überlastet sind, werden Wünsche gar nicht mehr wahrgenommen oder geäußert. Die Hosts diskutieren, wie wichtig es ist, trotzdem nach Wünschen zu fragen, um langfristig Versorgungssysteme zu verbessern.
00:45:04 Fazit: Wünsche ernst nehmen und Zeit geben
Sara und Sarah fassen zusammen, dass das Erfragen von Betätigungswünschen ein zentraler Bestandteil ergotherapeutischer Arbeit ist. Wünsche werden oft nicht spontan geäußert, sondern müssen gemeinsam erarbeitet werden. Es braucht Zeit, Raum und manchmal kreative Gesprächsführung (z. B. Wunderfrage), um verborgene Wünsche sichtbar zu machen. Sie ermutigen Ergotherapeut*innen, mehr über Wünsche und Wunder zu sprechen und verabschieden sich mit einem Ausblick auf die nächste Folge.
(Diese Zusammenfassung wurde mit Hilfe von KI generiert.)
Intro: Evidenz auf die Ohren. Der Podcast für evidenzbasierte Praxis in der Ergotherapie.
00:00:23 Sara Mohr: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge „Evidenz auf die Ohren“, eurem Podcast für evidenzbasierte Praxis in der Ergotherapie. Mein Name ist Sara Mohr und hier bei mir im virtuellen Podcast-Raum ist Sarah Bühler. Hallo Sarah!
00:00:39 Sarah Bühler: Hallo!
00:00:40 Sara Mohr: Sarah, hast du eine Geschichte aus dem Alltag für uns dabei?
00:00:45 Sarah Bühler: Ja, habe ich. Ich habe Staudenbeete angelegt. Unser Garten wurde ja letztes Jahr von den Hühnern plattgemacht, da wächst gar nichts mehr. Jetzt probieren wir, das ein bisschen zu trennen. Der Vorteil bei Staudenbeeten ist, die kommen wieder. Man pflanzt die einmal, schneidet sie zurück, und dann hoffe ich, dass ich nächstes Jahr nichts Neues pflanzen muss.
00:01:08 Sara Mohr: Das sind mehrjährige Pflanzen, oder? Cool.
00:01:09 Sarah Bühler: Ja, genau. Ich habe mich ein bisschen informiert, im Internet gibt’s Staudenbeet-Pläne – wie der Abstand sein muss, damit das gut wächst, die Höhe, wann was blüht.
00:01:27 Sara Mohr: Ach, das ist schön, wenn immer was blüht.
00:01:29 Sarah Bühler: Genau. Die Herausforderung ist jetzt, dass die Hühner die frisch gesetzten Pflanzen in Ruhe lassen. Wir experimentieren gerade mit Zäunen und Netzen.
00:01:42 Sara Mohr: Die Hühner haben wohl ihren eigenen Pflanzplan.
00:01:47 Sarah Bühler: Die haben vor allem Hunger auf Grünes.
00:01:53 Sara Mohr: Aber mit Zäunen – fliegen die nicht drüber?
00:01:57 Sarah Bühler: Doch, aber sie haben wohl ein Problem mit Sachen, die wackeln. Wir haben jetzt so halbgare Zäune, die im Wind wackeln – die stehen da erstmal nur temporär.
00:02:13 Sara Mohr: Und funktioniert das mit den wackelnden Zäunen?
00:02:17 Sarah Bühler: Relativ gut, aber ein Huhn hat gestern entdeckt, dass man drüber hüpfen kann. Das saß dann mitten im Staudenbeet, das fand ich nicht so gut.
00:02:32 Sara Mohr: Welches Huhn war’s? Helga, das hüpfende Huhn?
00:02:36 Sarah Bühler: Ja, das sitzende Huhn.
00:02:41 Sara Mohr: Ist das eigentlich schädlich für die Hühner, wenn sie die Pflanzen fressen?
00:02:44 Sarah Bühler: Nein, ich habe nur Pflanzen ausgesucht, die für Hühner nicht giftig sind.
00:02:53 Sarah Bühler: Ich habe alles nochmal gegoogelt. Letzte Woche habe ich viel Zeit damit verbracht, zu schauen, welche Pflanzen schnell wachsen, nicht giftig sind und schön aussehen.
00:03:10 Sara Mohr: Das klingt, als könnte das richtig schön werden – wenn Helga sich mal zurückhält.
00:03:15 Sarah Bühler:Ja, glaube ich auch. Bis die Zäune stehen, sind die Hühner in ihrer Voliere. Sie finden es so bedingt gut.
00:03:27 Sara Mohr: Wie finden sie das?
00:03:31 Sarah Bühler: Solange sie uns nicht sehen, sind sie friedlich. Sobald jemand mit dem Auto kommt, gackern sie schon.
00:03:41 Sara Mohr: Und beschweren sich.
00:03:45 Sarah Bühler: Und sie sitzen vor der Tür und warten, dass man sie rauslässt. Das tut mir dann leid.
00:03:54 Sara Mohr: Aber sie haben in der Voliere ja auch Platz, oder?
00:03:57 Sarah Bühler: Ja, die haben zwölf Quadratmeter Voliere.
00:04:07 Sara Mohr: Also, sie haben Ansprüche.
00:04:08 Sarah Bühler: Und die fordern sie auch ein. Das ist meine Geschichte aus dem Alltag.
00:04:18 Sara Mohr: Sehr schön! Ich kann mit einer Grünzeug-Geschichte anknüpfen. Ich mag Gartenarbeit, hatte aber meist nur einen Balkon. Letztes Jahr haben wir zwei Hochbeete aufgestellt. Ich habe einen Kalender bekommen, mit Samen für jeden Monat. Dieses Jahr habe ich mich getraut und seit März Verschiedenes ausgesät. Es klappt zum ersten Mal! Ich habe schon Kürbispflanzen, Tomaten, roten Basilikum und winzige Erdbeeren. Borretsch war auch dabei – kannte ich vorher nicht, aber das war da als Päckchen dabei. Kennst du das?
00:05:42 Sarah Bühler: Ja, das kenne ich, weil das hühnerfreundlich ist. Das blüht auch ganz nett.
00:05:46 Sara Mohr: Die blüht total schön, so lila-bläulich, und man kann sie essen. Das macht mich momentan einfach total froh – in der Mittagspause mal kurz an den Blumen rumzuwerkeln, zu gucken, dass die in der Sonne stehen und zu gießen. Das ist eine entspannende Betätigung für mich. Ich drücke die Daumen für die Erdbeeren!
00:06:22 Sarah Bühler: Ich drück die Daumen. Ich habe das mit Erdbeeren auch schon probiert, war aber nicht so erfolgreich.
00:06:29 Sara Mohr: Mal sehen, die Kürbisse sehen gut aus. Sehr schön, wollen wir ein bisschen über Wissenschaft reden? Ich habe noch Rückmeldungen zur letzten Folge über Neurofeedback. Wir haben zwei spannende Rückmeldungen bekommen. Die erste kam von Sabrina über Instagram. Wir hatten über die Leitlinie Autismus gesprochen, die empfiehlt, Neuro- oder Biofeedback nicht zur Verbesserung von Sozialverhalten einzusetzen. Sabrina ergänzte, dass „Masking“ – also das Simulieren neurotypischen Verhaltens – für viele mit hohem Energieaufwand und Belastung verbunden ist. Aber: Wenn jemand bewusst entscheiden kann, Masking als Skill einzusetzen, kann das auch hilfreich sein. Wichtig ist eine intensive Begleitung und Einbettung in den Alltag. Die zweite Rückmeldung kam von Jean Pierre, der eine Fortbildung zu Neurofeedback gemacht hat. Er betonte, dass mit Phänotypen von Wellenstörungen gearbeitet wird, also EEG-Wellenmuster analysiert und gezielt behandelt werden. Er findet es problematisch, pauschal Protokolle für z.B. ADHS zu nutzen. Den Transfer in den Alltag sieht er kritisch. Teilhabe verbessert sich, wenn man die Teilhabe behandelt. Neurofeedback sieht er als ergänzende Therapie auf Ebene der Körperfunktionen, Teilhabe muss aber immer mitgedacht werden. Jetzt schieben wir das Neurofeedback beiseite und reden über das heutige Thema. Ich habe bei Instagram eine Umfrage gemacht, ihr habt euch knapp für das Thema Betätigungswünsche entschieden. Sarah, hast du aktuell einen Betätigungswunsch?
00:12:47 Sarah Bühler: Ich freue mich, wenn es wärmer wird, und hätte Lust, mal wieder an den See zu gehen und mit dem Hund Stand Up Paddling auszuprobieren.
00:13:08 Sara Mohr: Das ist ein schönes Beispiel – motivierend! Wie gehst du in der Praxis vor, um Betätigungswünsche zu ermitteln?
00:13:32 Sarah Bühler: Wir machen meist ein Tagesprofil: Wie läuft ein typischer Tag ab, was klappt gut, was nicht, was sind Wünsche?
00:14:01 Sara Mohr: Ich habe früher markiert, wo die Klient*innen zufrieden oder unzufrieden sind – das sind dann meist die Anliegen für die Therapie. Ähnlich funktioniert das COPM oder OSA. Es geht darum, Probleme im Alltag zu identifizieren.
00:14:54 Sarah Bühler: Manchmal ist es aber nicht die Betätigung an sich, sondern das, was dahinter steckt – z.B. Unabhängigkeit oder Flexibilität.
00:15:47 Sara Mohr: Genau, die Frage nach der Bedeutung der Betätigung ist wichtig, um Alternativen zu finden, falls die ursprüngliche Betätigung nicht mehr möglich ist. Die Studie, die wir besprechen, beschäftigt sich mit Betätigungswünschen – also Dingen, die ich aktuell nicht tue, mir aber wünsche. Der Titel ist provokant: „Why wish for what I can’t do?“ Viele Assessments zur Betätigungsanliegen-Erhebung schauen retrospektiv: Wie war es vor dem Schlaganfall, Unfall oder der Erkrankung? Womit sind Sie unzufrieden? Das ist nachvollziehbar, weil viele Klient*innen durch ein plötzliches Ereignis Performanzfähigkeiten verloren haben. Ich habe beim Lesen der Studie überlegt, ob in der Pädiatrie der Fokus häufiger auf die Zukunft gerichtet ist, wenn es darum geht, Dinge neu zu lernen – zum Beispiel Schreiben oder Schleifenbinden. Bei Erwachsenen ist es oft ein Vergleich mit der Vergangenheit: Früher war es besser, und sie möchten wieder dahin zurück.
Die Studie, die wir uns jetzt gleich angucken, beschäftigt sich mit Betätigungswünschen in dem Sinne, dass sie sagen: Also etwas, das ich jetzt gerade nicht tue, von dem ich mir wünsche, dass ich es in Zukunft tue. Ich fand den Titel dieser Studie so schön, weil der auch ein bisschen provokant ist. Er heißt “Why wish for what I can’t do?” – also warum soll ich mir was wünschen, was ich eh nicht kann? Das fand ich eine ganz spannende Frage. Es ist eine Studie, die im Scandinavian Journal of Occupational Therapy erschienen ist, dieses Jahr. Und wir gehen mal so ein bisschen rein. Die Forscherin startet damit, dass sie sagt: Viele Assessments, die wir nutzen, um am Anfang Betätigungsanliegen zu finden oder Betätigungsprobleme, sind oft mit einer Rückschau verbunden. Wir gehen eigentlich mit den Klientinnen durch die Vergangenheit, durch einen typischen Tag, durch eine typische Woche – wie war es vor dem Schlaganfall, wie war es vor dem Unfall, also in die Vergangenheit. Womit sind Sie unzufrieden oder was ist da ein Anliegen von Ihnen zu dem Thema? Das gilt häufig, weil wir oft mit Klientel zu tun haben, die durch ein mehr oder weniger plötzliches Ereignis Performanzfähigkeiten verloren haben, sei es ein Schlaganfall oder eine chronische Erkrankung, wo einfach die Körperfunktion nach und nach nicht mehr so gut möglich ist. Ich habe überlegt beim Lesen der Studie, ob in der Pädiatrie der Fokus vielleicht häufiger auf die Zukunft gerichtet ist, wenn es darum geht, Dinge neu zu lernen – bei Kindern also schreiben zu lernen, Schuhe binden zu lernen, und so, das muss gar nicht so sehr auf die Vergangenheit gerichtet sein, oder?
00:18:05 Sarah Bühler: Kommt drauf an, wie früh die kommen. Schule macht und schon sehr…
00:18:08 Sara Mohr: Ja, okay.
00:18:09 Sarah Bühler: …und sehr im Jetzt.
00:18:13 Sara Mohr: Wir gucken auf die Gegenwart, jetzt musst du schreiben. Ja, ja, okay, das stimmt natürlich.
00:18:20 Sarah Bühler: Oder Hausaufgabensituationen oder sowas.
00:18:22 Sara Mohr: Die jetzt Probleme, ja. Man hat ja jetzt ein Problem, das stimmt.
00:18:28 Sarah Bühler: Aber oft hat es auch noch nie geklappt.
00:18:31 Sara Mohr: Ja, genau. Dann ist es eher so: Für die Zukunft wäre es schön, wenn das… und nicht so ein Vergleich mit wie war es früher. Bei Erwachsenen ist ja häufig der Vergleich: Früher war es besser oder hat es besser funktioniert, und ich will wieder, dass es so gut funktioniert wie früher oder annähernd so gut. Ich habe bei Erwachsenen ist es wirklich oft so ein Vergleich mit der Vergangenheit.
00:18:37 Sarah Bühler: Ja.
00:18:49 Sara Mohr: Und dieser Vergleich mit der Vergangenheit ist ja auch gar nicht so einfach, das braucht kognitive Ressourcen, die nicht alle unsere Klientinnen haben, und auch kommunikative Ressourcen, die auch nicht alle haben. Die Forscherin hat sich jetzt die Frage gestellt: Wie kann es denn trotzdem möglich sein, Betätigungswünsche zu sammeln, wenn es den Leuten häufig nicht so gut gelingt, diese Wünsche auszudrücken? Weil wir oft gar nicht nach Wünschen fragen, sondern nach dem Vergleich mit der Vergangenheit, und weil die vielleicht nicht die kognitiven oder verbalen Ressourcen dafür haben. Dann hat sie sich hingesetzt und hat erst mal ein Assessment identifiziert, das eigentlich ein ganz gutes Potenzial hat, genau diese Wünsche zu sammeln. Es gibt den Occupational Gaps Questionnaire, also den Betätigungslücken-Fragebogen. Der ist so aufgebaut – es gibt ihn leider nicht auf Deutsch, aber auf Englisch kostenlos, den Link findet ihr in den Shownotes – dass es eine Liste aus 30 Betätigungen in ganz verschiedenen Lebensbereichen gibt. Für jede Betätigung kann die Person ankreuzen: Führen Sie diese Betätigung aktuell aus, ja oder nein? Und möchten Sie sie gerne in der Zukunft ausführen, ja oder nein? Dann sehe ich bei der Auswertung, wo Lücken sind – bei Betätigungen, die sie gerne in Zukunft ausführen würden, aber jetzt gerade nicht. Um jetzt die Situation der Teilnehmenden dieser Studie zu verstehen, lernen wir jetzt kurz was über das Gesundheitssystem in Schweden. Die Studie wurde nämlich in Schweden durchgeführt. In Schweden gibt es ein sogenanntes Homecare-System, das ist steuerfinanziert. Das funktioniert so: Es wird ein Assessment oder eine Begutachtung bei den Leuten zu Hause durchgeführt, und da wird geschaut, welche Bedarfe für Unterstützung es gibt.
00:20:34 Sarah Bühler: Vergleichbar wie hier mit dem medizinischen Dienst.
00:20:37 Sara Mohr: Ja, ich glaube, das wird von Fachpersonal durchgeführt – also zum Beispiel auch Ergos arbeiten in diesem Befundungssystem. Ich grüße an dieser Stelle Sabrina aus Schweden, mit der ich ab und zu einen Vortrag halte. Die ist als Ergotherapeutin, als deutsche Ergotherapeutin, vor Jahren schon nach Schweden gegangen und hat eine Zeitlang in diesem Homecare-System gearbeitet. Die fahren dann zu dir nach Hause und machen so eine Evaluation: Was brauchst du da auch aus ergotherapeutischer Sicht?
Wenn da festgestellt wird, okay, es gibt hier einen Unterstützungsbedarf für die Person, dann organisiert die Gemeinde – das ist also gemeindebasiert – die notwendige Unterstützung. Was genau das für eine Unterstützung ist, ist abhängig vom Bedarf im Alltag. Wenn es Probleme gibt beim Frühstückmachen, dann kommt jemand und hilft beim Frühstückmachen. Wenn die Person gerne einmal die Woche spazieren gehen möchte, dann kommt jemand und unterstützt beim Spazierengehen. Das ist wirklich so alltagsmäßig bezogen, zumindest ist das System so gedacht. Das klingt nach einem ziemlich coolen System, finde ich, aber die Mittel sind begrenzt, und die Forschende schreibt auch in ihrer Studie, dass die Versorgung in diesem Homecare-System leider nicht immer ideal läuft. Die Personen, die dieses Homecare durchführen, sind – ich habe mir das so vom Lesen her ähnlich vorgestellt wie bei uns Pflegedienste, ambulante Pflegedienste – die sind unter einem unglaublichen Zeitdruck und haben oft gar nicht die Ressourcen, genau zu schauen, was braucht diese Person jetzt, sondern machen das Standardprogramm: kommen, hinstellen, Medikamente geben…
00:22:12 Sarah Bühler: …und wieder gehen.
00:22:15 Sara Mohr: Daher kommt auch die Forschungsfrage, die sich die Wissenschaftlerin gestellt hat: Es gibt vermutlich eine Lücke zwischen dem, was diese Homecare-Empfänger sich wünschen, und dem, was sie durch die Unterstützung tatsächlich durchführen können. Da sind wahrscheinlich viele Betätigungswünsche, und diese Lücke und wie Betroffene die beschreiben können – das wollte sie sich angucken.
Ich finde das eine ziemlich spannende Lücke, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das auch eine Lücke ist, die im deutschen Gesundheitssystem existiert, gerade wenn wir an mobile Pflegedienste und Alltagsbetreuung denken, die ja vom Grundgedanken eine gute Idee sind, aber eben unterfinanziert, sodass sie nicht individuell auf die Leute eingehen können.
Ich finde es auch eine coole Idee in dieser Studie, zu sagen: Wir legen jetzt eine ergotherapeutische Perspektive auf diesen Sachverhalt. Wir reden über Probleme im Gesundheitswesen insgesamt, aber die ergotherapeutische Perspektive ist eigentlich ziemlich wertvoll, weil es für unsere Klientinnen wichtig ist, Betätigungsprobleme zu erfassen. Aber manchmal ist es vielleicht auch gut, Wünsche zu erfassen statt Probleme.
Was haben die Forschenden jetzt gemacht? Sie haben elf Personen interviewt, das waren neun Frauen und zwei Männer, und alle von denen haben dieses Homecare-Angebot in Schweden erhalten. Sie waren zwischen 66 und 93 Jahren alt, also alles ältere Personen.
Neun von den Personen haben alleine gelebt und zwei mit ihren Ehepartner*innen zusammen. Die hatten unterschiedliche Grunderkrankungen, aber was sie alle gemeinsam hatten, war eingeschränkte Mobilität, begrenzte Ausdauer, unterschiedliche chronische Schmerzsymptome und limitierte Funktion der oberen Extremitäten. Niemand hatte kognitive Einschränkungen, aber eine Person hatte eine starke Hörbehinderung. Zu denen ist die Forschende nach Hause gefahren und hat mit ihnen den Occupational Gaps Questionnaire durchgeführt. Das eigentliche Assessment ist so gedacht, dass man den Leuten das mitgibt und sie füllen das alleine aus, weil man nur Ja/Nein ankreuzen muss. Sie hat es aber als Interviewleitfaden genutzt und ist diese Aktivitäten mit den Leuten durchgegangen. Sie hat ihn ein bisschen verkürzt, weil vier Aktivitäten sich tatsächlich auf Arbeit beziehen, und das waren ja alles berentete Personen, also hat sie 26 Aktivitäten mit ihnen durchgegangen. Sie hat immer gefragt: Tun Sie das gerade? Wünschen Sie sich das für die Zukunft gerne zu tun? Und hat dann nachgefragt: Warum wünschen Sie sich die Betätigung für die Zukunft oder warum auch nicht?
Diese Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und dann hat sie eine thematische Analyse darüber laufen lassen. Damit wir uns das besser vorstellen können, würde ich jetzt gerne einfach mal zehn der Items aus dem Occupational Gaps Questionnaire nennen. Wir fangen mal an mit dem ersten: Einkaufen – damit ist der Wocheneinkauf für Lebensmittel gemeint. Tust du das gerade?
00:25:21 Sarah Bühler: Ja.
00:25:54 Sara Mohr: Wünschst du dir das auch in der Zukunft?
00:26:01 Sarah Bühler: Ist auch kein Problem, wenn das jemand übernimmt.
00:26:03 Sara Mohr: also musst du es nicht?
00:26:10 Sarah Bühler: Nee, es ist jetzt nichts, was mir wichtig ist zu tun.
00:26:17 Sara Mohr: Dann geht es weiter mit Kochen, also für sich selbst leben, Nahrung und Lebensmittel zubereiten, aber auch sowas wie Tischdecken, Geschirr spülen, also alles was zum Thema Kochen dazugehört. Tust du das aktuell?
00:26:21 Sarah Bühler: Ja.
00:26:22 Sara Mohr: Wünschst du dir das auch für die Zukunft?
00:26:25 Sarah Bühler: Ja.
00:26:27 Sara Mohr: Die persönlichen Finanzen regeln – tust du das aktuell?
00:26:21 Sarah Bühler: Ja.
00:26:23 Sara Mohr: Und möchtest du das auch in der Zukunft machen?
00:26:24 Sarah Bühler: Auf jeden Fall. Das kann ich nicht abgeben, keine Chance, dass das jemand anders regelt und ich dann noch schlafe.
00:26:39 Sara Mohr: Okay, gut, eindeutige Antwort. Shopping – und zwar wirklich so, also jetzt so Window Shopping, aber Kleidung anprobieren, schöne Sachen einkaufen, wirklich Shopping im Sinne des Wortes. Tust du das aktuell?
00:26:50 Sarah Bühler: Mhm.
00:26:53 Sara Mohr: Wünschst du dir das für die Zukunft?
00:26:54 Sarah Bühler: Nö, siehst du, die Shopperin, ne.
00:27:01 Sara Mohr: Was haben wir noch? Putzen, abstauben, Staubsaugen, der ganze Krempel. Tust du das aktuell?
00:27:11 Sarah Bühler: Ja. Ja, eigentlich schon.
00:27:13 Sara Mohr: Wünschst du dir das für die Zukunft?
00:27:13 Sarah Bühler: Ja, das ist schon meine Morgenroutine, so bestimmte Sachen zu machen, um in die Gänge zu kommen.
00:27:18 Sara Mohr: Bestimmte Sachen, ja. Sozialkontakte, also Freundinnen besuchen, Verwandte besuchen, Nachbarn besuchen, Sozialkontakte haben. Machst du das aktuell?
00:27:20 Sarah Bühler: Ja.
00:27:23 Sara Mohr: Wünschst du dir das auch für die Zukunft?
00:27:26 Sarah Bühler: Ja.
00:27:31 Sara Mohr: Und als letztes nehmen wir noch Reisen – also “Travelling for Pleasure”, wirklich so Freizeitreisen, in Urlaub fahren, Ausflüge machen. Machst du das aktuell?
00:27:44 Sarah Bühler: Wenig.
00:27:45 Sara Mohr: Wünschst du es dir für die Zukunft?
00:27:46 Sarah Bühler: Ja, das würde ich gerne wieder mehr machen.
00:27:47 Sara Mohr: Sehr schön. Also wir sehen, das ist eigentlich relativ einfach zu beantworten, man hat direkt so ein Gefühl, würde ich das für die Zukunft oder will ich das nicht? So ähnlich hat die Forscherin auch die Interviews durchgeführt, die ja wahrscheinlich noch ein bisschen vertiefendere Fragen gestellt hat als ich jetzt. Dann hat sie die ganzen Sachen ausgewertet und bei der Auswertung fiel ihr auf: Auf die Frage “Möchten Sie diese Betätigung auch in der Zukunft ausführen?” sagten die Leute sehr, sehr häufig – also überproportional häufig – nein. Zu allen möglichen Betätigungen auf dieser Liste sagten sie: “Nö, ist okay, brauche ich nicht.” Was nachvollziehbar war, war, dass die Teilnehmenden aktuell wenige Dinge eigenständig tun konnten, einfach aufgrund ihrer Einschränkungen. Aber dass sie scheinbar auch so wenige Wünsche hatten für die Zukunft, das fand sie bemerkenswert, und ist in der Analyse noch mal tiefer reingegangen, um die Gründe rauszufiltern: Warum sagen die Leute denn nein, warum haben sie so wenige Wünsche? Sie hat drei Gründe rausgefiltert. Der erste Grund, den die Leute angegeben haben, warum sie keine oder weniger Betätigungswünsche haben, ist, dass sie Beschränkungen durch Kosten erfahren. Viele Betätigungen auf dieser Liste sind in irgendeiner Form mit Kosten verbunden. Teilweise ist es auch, je nachdem, was es für eine Betätigung ist, mit Kosten verbunden, dafür eine Assistenz oder eine andere Form der Unterstützung zu erhalten. Die Teilnehmenden sagen: “Okay, das ist mir das Geld einfach nicht wert. Dann lass ich es lieber.” Auch wenn das eine Betätigung war, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, haben sie gesagt: Wenn ich das jetzt abwäge, was es kostet und was es mir bringt – nee, dann mache ich es nicht mehr.
Der zweite Grund, warum wenig Betätigungswünsche geäußert wurden, waren körperliche Einschränkungen. Häufig gaben die Teilnehmenden gerade bei Betätigungen, die sie aufgrund von körperlichen Einschränkungen nicht mehr oder nur schwer hätten durchführen können, an, dass sie die auch gar nicht mehr machen möchten. Daher auch der Titel: “Warum soll ich mir etwas wünschen, was ich nicht kann?” Ich fand das einen total spannenden Punkt, weil wir in der Ergotherapie wissen, dass unsere Volition, also unser Wille, eine Betätigung auszuführen, stark daran gekoppelt ist, welche Erfahrungen wir in der Vergangenheit mit dieser Betätigung gemacht haben. Dinge, die mir früher Spaß gemacht haben, wünsche ich mir auch für die Zukunft – aber nur, wenn ich glaube, dass ich sie noch ausführen kann. Wenn ich positive Erfahrungen beim Fahrradfahren gemacht habe, will ich auch in Zukunft öfter Fahrrad fahren. Ich persönlich mache häufig negative Erfahrungen beim Fahrradfahren, weil ich es nicht gut kann und Angst habe – deshalb möchte ich das auch in Zukunft nicht machen (lacht). In den Interviews schien es jetzt aber so, dass allein diese positive Erinnerung an eine Betätigung nicht ausgereicht hat, damit die Teilnehmenden sich diese auch für die Zukunft wünschen.
Es gibt in der Studie einen Interviewausschnitt, wo die Interviewerin fragt: “Wie ist es mit Ausflügen, Reisen, diesen Dingen?” Die Teilnehmerin antwortet: “Nö, das ist vorbei.” Die Interviewerin fragt: “Vermissen Sie das?” Die Teilnehmende sagt: “Nein.” Dann fragt sie noch mal nach, aber die Antwort bleibt: “Nein, das ist so in Ordnung.” Die Teilnehmerin sagt: “Ich bin schon so viel gereist, das reicht jetzt.” Obwohl das positiv in Erinnerung ist, ist jetzt einfach Schluss. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass unsere Volition nicht nur aus diesen positiven Erfahrungen gebildet wird, sondern auch abhängig ist von unserer Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Ich wünsche mir auch Betätigungen, von denen ich ausgehe, dass ich sie gut ausführen kann.
00:31:38 Sarah Bühler: Genau, dass es nicht stressig ist.
00:31:40 Sara Mohr: Ich finde es voll cool, wenn Leute einen Marathon laufen, aber meine Selbstwirksamkeitsüberzeugung sagt mir, dass ich das nicht nächste Woche kann. Das ist kein Wunsch von mir – auf meiner Not-to-do-Liste für dieses Leben steht Marathonlaufen. Das erleichtert ungemein, wenn man einfach mal entschieden hat: In diesem Leben nicht (lacht). Zurück zum Thema: Ich wünsche mir Betätigungen, von denen ich ausgehe, dass ich sie zu meiner Zufriedenheit durchführen kann. Die Teilnehmenden waren alle schon älter, lebten schon länger mit vielseitigen körperlichen Einschränkungen und hatten für sich verinnerlicht, dass sie viele Dinge, auch die, die ihnen früher Freude gemacht haben, körperlich einfach nicht mehr durchführen können. Entsprechend hatten sie wenig Motivation, sich das zu wünschen.
Ich finde das Thema spannend, weil ich ein großer Fan von persönlicher Assistenz bin, zum Beispiel auch für Menschen mit Behinderung oder ältere Menschen. Ich propagiere, dass wir die soziale Umwelt viel zu wenig als Ressource nutzen. Warum lässt du dir denn nicht helfen? Oft gibt es die Überzeugung: “Ich muss alles selbstständig können.” Und das wird dann auch als Ziel in der Ergotherapie gesetzt. Wenn es den Leuten wichtig ist, gehe ich da mit, aber muss ich wirklich alles alleine können? Niemand kann alles alleine. Wir dürfen öfter kommunizieren, dass es absolut legitim ist, sich helfen zu lassen. Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Skill – um Hilfe bitten zu können. Meine Annahme war immer: Ich kann ja trotzdem teilhaben, auch wenn ich es nicht mit meinen eigenen Händen mache. Ich kann mit meinen Kumpels Fußball gucken, auch wenn jemand anders den Fernseher eingeschaltet hat. Vielleicht ist es aber für manche für die Identität und das Selbstwirksamkeitserleben wichtig, bestimmte Dinge selbst zu machen. Dann ist es nicht dasselbe, wenn jemand anders hilft. Es kann also sein, dass Menschen, wenn sie die Wahl haben zwischen Unterstützung oder gar nicht machen, sich für “gar nicht machen” entscheiden.
00:34:46 Sarah Bühler: Wir hatten im Team letztens darüber gesprochen – es ist wichtig zu erfragen, was der Kern der Betätigung ist. Geht es beim Brot schmieren darum, alles selbst zu machen, oder darum, zu bestimmen, wie viel Butter draufkommt? Dann reicht es vielleicht, nur die Butter zu schmieren.
00:35:05 Sara Mohr: Das ist eine schöne Metapher. Wenn man weiß, was genau an der Betätigung wichtig ist, kann man das gezielt unterstützen.
00:35:09 Sarah Bühler: Genau. Wir haben als Erinnerung so eine Schnur mit Kugeln, alle Kugeln sind blau bis auf eine oder zwei, das sind die Kerne, die demjenigen wichtig waren. Dann kann eventuell jemand anderes von dieser Kette etwas übernehmen, ohne dass das Gefühl, es selbst gemacht zu haben, eingeschränkt wird.
00:35:38 Sara Mohr: Das ist eine schöne Metapher, die man auch in der Therapie nutzen kann, um das zu erklären.
00:35:43 Sarah Bühler: Absolut. Deshalb gibt es das jetzt bei uns. Wir machen eine Kiste für Gesprächsführung, mit Metaphern und solchen Dingen. Da ist mittlerweile auch ein Ruderboot drin.
00:35:56 Sara Mohr: Weil man zu den Klienten ins Boot steigt?
00:35:59 Sarah Bühler: Genau. Oder um zu schauen, wer alles im Boot sitzt und wie gerudert wird – rudern alle in die gleiche Richtung? Oder rudert einer zu stark auf einer Seite und wir driften ab?
00:36:20 Sara Mohr: Sehr cool, das ist eine schöne Metapher.
00:36:22 Sarah Bühler: Ja, das wird jetzt noch weitergeführt.
00:36:26 Sara Mohr: Ein spannender Aspekt, der in dieser Studie rauskam. Sie haben gesagt, dass körperliche Einschränkungen ein Grund sein können, warum jemand sich gegen einen Wunsch entscheidet. Eine Betätigung, bei der ich mir meiner Symptome bewusst werde, kann vermieden werden – das kann auch ein Coping-Mechanismus sein, weil ich diese Defizitkonfrontation nicht will. Wenn ich glaube, dass es eh schiefgeht oder nicht zu meiner Zufriedenheit klappt, entscheide ich mich dagegen.
00:37:06 Sarah Bühler: Ich glaube, die Fortbildung dazu war echt gut – es gab auch ein Bild mit drei Kreisen, einer war therapiefreie Zeit oder Freizeit.
00:37:25 Sara Mohr: Das sind die Rehabilitationsfelder aus der handlungsorientierten Diagnostik und Therapie.
00:37:29 Sarah Bühler: Ja, genau. Ich finde das wichtig, weil ich das manchmal bei Ehepartnern erlebe, die in jeder Situation möchten, dass noch mal auf bestimmte Dinge geachtet wird. Es gibt aber auch Zeiten, in denen die Erkrankung keine Rolle spielt und auch das Training nicht – dann ist man nicht faul, sondern muss nicht 24/7 therapieren oder therapiert werden.
00:38:04 Sara Mohr: HODT-Fortbildung.
00:38:07 Sarah Bühler: Du musst jetzt so viel kürzen, ich hab das rausgesucht und bezahlt. Ich komme gerade nicht dran, aber ja, war gut. Ist nicht mehr weit.
00:38:22 Sara Mohr: Wir werden Fragen zu dieser Fortbildung kriegen.
00:38:28 Sarah Bühler: Ich kann das rausfinden.
00:38:31 Sara Mohr: Wir verlinken es in den Shownotes, welche Fortbildung das war – wir wissen, dass sie gut war. Und wir sagen euch dann, wie sie heißt.
00:38:43 Sarah Bühler: Ja, welche Finanzen habe ich wieder im Griff. Jetzt kann ich sagen, was sie gekostet hat.
00:38:49 Sara Mohr: Weißt du, wo sie war und wann?
00:38:51 Sarah Bühler: War online.
00:38:53 Sara Mohr: Also an alle, die jetzt schon anfangen zu schreiben, wie die Fortbildung heißt: Es steht in den Shownotes, bis dahin haben wir es rausgefunden. Dann schreiben wir es in die Shownotes.
00:39:06 Sarah Bühler: Warte, ich kann ja auf unseren Praxis-Server zugreifen. Moment… Ordner Infos, HODT, ja, handlungsorientierte Diagnostik und Therapie.
00:39:16 Sara Mohr: Handlungsorientierte Diagnostik und Therapie, genau. Sehr cool, bin ich auch ein Fan von. Also, Leute: HODT-Fortbildung, dann bekommt ihr so eine Schnur mit Perlen und könnt das als Metapher im Therapiegespräch nutzen. Find ich gut. Jetzt zurück zum Thema. Wir waren bei dem Aspekt, dass ein Betätigungswunsch nicht zu äußern oder nicht zu haben, auch ein Coping-Mechanismus sein kann, weil ich die Defizitkonfrontation nicht möchte. In der Studie gibt es auch einen Interviewausschnitt dazu: Eine Teilnehmerin bekommt alle Mahlzeiten vom Homecare-Service, meist TK-Essen. Die Interviewerin fragt, ob sie sich wünscht, selbst zu kochen oder andere Unterstützung beim Kochen zu bekommen. Die Teilnehmerin sagt: “Nein, das ist genau richtig so. Früher habe ich viel gekocht und das hat mir Freude bereitet, aber jetzt macht es mir keinen Spaß mehr, also überlasse ich das anderen.” Dieses Aufgeben von Betätigungen oder das Setzen kleiner Ziele ist auch Teil des Alterungsprozesses. Die Teilnehmenden waren teilweise weit über 80 Jahre alt. Wir wissen aus der Alternsforschung, dass Menschen im hohen Alter mehr Wert auf emotional bedeutsame Handlungen legen und weniger auf hochgesteckte Ziele oder aufregende Erlebnisse. Das zeigt sich auch bei den Aussagen der Teilnehmenden: Gerade bei Betätigungen, die einen langen Vorlauf brauchen, wie Reisen, haben die meisten gesagt: “Nein.” Obwohl sie früher gerne verreist sind, gehen sie davon aus, dass sie es jetzt nicht mehr genießen können.
Wenn Wünsche geäußert wurden, dann oft mit dem Wunsch nach gemeinsamem Tun – etwa gemeinsam kochen oder einkaufen gehen, nicht unbedingt selbständig mit Hilfsmitteln. Die soziale Komponente, gemeinsam Zeit verbringen, war oft der eigentliche Wunsch – nicht das Kochen an sich oder die Selbständigkeit. Der letzte der drei Gründe, warum keine Betätigungswünsche geäußert wurden, waren strukturelle Beschränkungen. Damit sind institutionelle Rahmenbedingungen gemeint. Die Teilnehmenden kannten die Möglichkeiten und Grenzen des Systems und wussten, dass viele Wünsche nicht erfüllt werden können. Sie sagten oft: “Das Personal hat eh keine Zeit.” Deshalb äußern sie irgendwann keine Wünsche mehr, der “Horizont der Möglichkeiten” verkleinert sich. Sie gehen gar nicht mehr davon aus, dass zum Beispiel ins Kino gehen eine realistische Möglichkeit ist, dass das eine Option ist, die man sich wünschen kann, weil sie wissen, es hat eh niemand Zeit.
00:43:31 Sarah Bühler: So schade, weil sich wahrscheinlich ja doch jemand finden würde – vielleicht niemand im System, aber wenn man…
00:43:36 Sara Mohr: Ja, der Wunsch wird dann gar nicht geäußert, weil das gar nicht als Möglichkeit wahrgenommen wird.
00:43:42 Sarah Bühler: Eigentlich müsste man so Nachbarschaftshilfe, Apps oder sowas oder mehr Vernetzung haben.
00:43:45 Sara Mohr: Ja, so Community, ne. Und das ist eben dann nicht so, dass sie diese Wünsche nicht mehr äußern, sondern sie haben sie tatsächlich irgendwann nicht mehr. Sie sind ihnen irgendwann nicht mehr bewusst. An der Stelle hat sich die Forscherin in der Studie selbst gefragt – und sie hat das ganz schön geschrieben – ist es eigentlich ethisch okay, dass ich zu Leuten nach Hause gehe, die im Homecare-System sind, und sie nach ihren Wünschen frage, obwohl wir wissen, dass diese Wünsche aller Wahrscheinlichkeit nach nie erfüllt werden?
00:43:56 Sarah Bühler: Ja.
00:44:20 Sara Mohr: Sie sagt ganz klar: Doch, das ist wichtig, dass wir diese Fragen stellen, und es ist wichtig, dass diese Studie gemacht wird. Auch wenn Assessments wie zum Beispiel der Occupational Gaps Questionnaire für die Ergotherapie entwickelt wurden, sagt sie, der kann auch in anderen Gesundheits- und Sozialsystemen sinnvoll eingesetzt werden, um zum Beispiel genau das zu evaluieren: Was brauchen Menschen, die Homecare-Services nutzen? Was haben sie für Wünsche? Und wie könnten wir diese Wünsche erfüllen? Denn nur dann weiß ich ja, wie ich das System vielleicht verändern muss, wenn ich weiß, was die Leute sich wünschen. Das sind dann natürlich größere Veränderungen, die notwendig sind. Ich fand diese Studie einfach spannend, um wirklich zu sehen: Was können Gründe sein, warum Leute, wenn wir sie nach ihren Wünschen fragen, nicht einfach mit 20 Wünschen herausplatzen? Das kann ganz schwerwiegende Gründe haben, warum die Leute sich ihrer Wünsche manchmal gar nicht mehr bewusst sind. Das war die kleine, feine Studie zu Betätigungswünschen.
Ich finde, wir können mehr mit den Leuten über ihre Wünsche sprechen und ihnen auch Zeit lassen, weil ihnen vielleicht nicht direkt ein Wunsch einfällt oder sie vielleicht auch erstmal Nein sagen, einfach weil sie gelernt haben, dass es keinen Sinn macht, Wünsche zu äußern.
00:45:39 Sarah Bühler: Ja, bei dieser Fortbildung kam…Auch eine Fee vor…
00:45:42 Sara Mohr: Sarah, du musst aufhören, diese Fortbildung zu teasern, solange wir nicht genau wissen (lacht)…
00:45:47 Sarah Bühler: Ja, okay.
00:45:47 Sara Mohr: Was war mit der Fee?
00:45:53 Sarah Bühler: Da ging es auch darum, glaube ich, wenn man sich Sachen wünschen kann, erstmal 20, und dann glaube ich 10 oder so, und dann die wichtigsten. Ich kenne das auch aus dem Fotointerview, da gibt es ja den Zauberer, mit dem man Kinder fragt: Wenn du zaubern könntest…was wäre denn dann anders? Oder wie würde das denn dann aussehen?
00:46:09 Sara Mohr: Das hatten wir auch bei der Coaching-Ausbildung, da gibt es ja die Wunderfrage: Wenn heute Nacht ein Wunder passieren würde, wie würde dann morgen der Tag aussehen? Und dann kann man da ganz gut weiterarbeiten mit den Leuten: Was würde dann anders sein? Wie würden sie sich anders verhalten? Was würden sie anders machen? Woran würden Sie merken, dass das Wunder passiert ist? Was wäre dann anders?
Ja, mehr über Wünsche und Wunder sprechen. Ach, jetzt wird das hier auch heimelig.
Das war die Studie für heute, die ihr euch gewünscht habt.
Dann würde ich sagen, machen wir den Deckel drauf. Und wir hören uns bei der nächsten Folge wieder. Tschüss!
00:46:50 Sarah Bühler: Bis dann.
Die Studie in Bildern

2 Comments
Xenia
22. Mai 2025
Hi Sara und Sarah,
Gibt es die Folge auch als Transkript so wie die ersten Folgen? Ich bin auditv nicht so gut und daher hilft mir das mitlesen sehr.
Liebe Grüße
Xenia
Ergo-Unterwegs
22. Mai 2025
Hi Xenia,
Danke für deinen Kommentar! Die Transkripte sind immer etwas mehr Arbeit, deshalb dauert es manchmal kurz. Jetzt sollte das Transkript online sein 🙂 Liebe Grüße,
Sara